Ex-US-Sicherheitsberater „Ich mache mir Sorgen um die Ukraine“

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Quelle: imago images

Stephen Hadley war Sicherheitsberater unter US-Präsident George W. Bush. Zum Jahrestag des Ukraine-Krieges spricht er über russische Nato-Legenden, Chinas Einfluss auf Putin und die vier Möglichkeiten, wie der Krieg enden könnte.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

WirtschaftsWoche: Mister Hadley, am Freitag jährt sich zum ersten Mal der russische Überfall auf die Ukraine. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
Stephen Hadley: Ich bin beunruhigt, weil Putin glaubt, dass er Vorteile hat. Und er könnte Recht haben. Erstens ist er überzeugt, dass er einen Zeitvorteil besitzt. Er geht davon aus, dass er neu mobilisierte Truppen und Ausrüstung schneller an die Front bringen kann, als das anspruchsvollere Equipment, das die Vereinigten Staaten und Europa den Ukrainern zur Verfügung stellen, genutzt werden kann. Er wird also versuchen, die Ukrainer zu überwältigen, bevor die frischen westlichen Waffen vor Ort etwas bewirken können. Zweitens glaubt er, dass er die russische Bevölkerung durch sehr energische Propaganda länger hinter den Kriegsanstrengungen halten kann, als die Ukraine durchhält und der Westen bereit sein wird, Unterstützung zu leisten. Masse spielt eine Rolle – und da ist Russland der Ukraine überlegen. Deshalb mache ich mir im Moment Sorgen um die Ukrainer.

US-Präsident Joe Biden hat gerade Kiew besucht und weitere Unterstützung zugesagt. Wird das ausreichen, um die Ukraine zu retten?
Es war sehr mutig vom Präsidenten, das zu tun. Er begibt sich in ein Konfliktgebiet, in dem keine US-Truppen vor Ort sind, um ihn zu schützen. Eine neunstündige Zugfahrt von Polen nach Kiew und zurück! Ich glaube, das hat die Moral der ukrainischen Bevölkerung sehr gestärkt. Aber es gibt keinen Ersatz für Waffen, Munition und Ausbildung. Das ist es, was die Ukrainer brauchen. 

Sollte das auch die von der Ukraine geforderten Langstreckenwaffen umfassen?
Bislang haben die Vereinigten Staaten und unsere europäischen Freunde und Verbündeten keine taktischen Kampfflugzeuge und Langstreckenraketen zur Verfügung gestellt. Ich denke, dass Langstreckenraketen durchaus nützlich wären. Mit diesen Waffen könnten die Ukrainer die russischen Streitkräfte, die sie angreifen, in Bedrängnis bringen. 

Stephen Hadley in seiner Zeit als Nationaler Sicherheitsberater des US-Präsidenten George W. Bush. Quelle: imago images

Stephen Hadley

Die Regierung Biden zögert allerdings. 
Ich sehe das anders als die Administration. Ich stimme der Regierung zu, dass die Ukraine nicht wahllos russische Bevölkerungszentren angreifen sollte – so wie es Russland in der Ukraine tut. Aber ich würde eine Regel aufstellen, die besagt, dass, wenn russische Truppen die Ukraine angreifen, diese Truppen und Systeme legitime Ziele darstellen, egal wo sie sich befinden. Sonst hat Russland einen sicheren Hafen, von dem aus es ohne Risiko die Ukraine angreifen kann. Wir wissen aus unseren Kriegen, etwa Vietnam, dass man ein echtes Problem hat, wenn der Gegner einen solchen sicheren Hafen hat. Ich denke, die Ukrainer können mit Recht sagen: Wenn russische Streitkräfte Ukrainer angreifen und töten, dann sollten sie ein faires Ziel sein, egal wo sie sich befinden. 

Würde das für die Ukraine ausreichen, um den Krieg tatsächlich zu gewinnen? 
Die Frage ist, was es bedeutet, den Krieg zu gewinnen. Hier gibt es vier Möglichkeiten. Die Ukraine könnte Russland aus ihrem gesamten Landesgebiet vertreiben. Das halte ich für unwahrscheinlich. Leider könnte es Russland gelingen, die ukrainischen Linien zu durchbrechen und die Ukraine militärisch zu besiegen, das Land also zu schlucken. Das halte ich ebenfalls für unwahrscheinlich. Es bleiben also zwei Möglichkeiten: Sie kämpfen bis zu einem Patt, so wie die Invasion 2014 endete. Das ist wohl das wahrscheinlichste Szenario. Weniger wahrscheinlich, aber immer noch wahrscheinlicher als die anderen beiden Szenarien wäre, dass die Ukrainer die hochentwickelten Waffen des Westens tatsächlich rechtzeitig erhalten, eine Gegenoffensive starten und in der Lage sind, die russischen Linien zu durchbrechen und die Landbrücke durch ukrainisches Gebiet zu bedrohen, die jetzt von Russland zur Krim führt. Wenn das passiert, könnte Putin angesichts der Aussicht auf eine strategische Niederlage tatsächlich um Frieden bitten. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Ein Patt ist das wahrscheinlichere Ergebnis.



Was würde jede Art von Niederlage für Putins Ansehen in Russland bedeuten?
Innerhalb Russlands scheint er nicht gefährdet zu sein, oder? Wenn er die Krim verlieren würde, wäre das ein echtes Problem für ihn. Aber wenn er die Krim und einige Gebiete in der Ukraine hält und sogar eine Art Friedensabkommen abschließt, wird er das wohl als Sieg verbuchen. Und er wird wahrscheinlich überleben. Wissen Sie, eine der ersten Regeln von autoritären Machthabern ist es, dafür zu sorgen, dass es keinen erkennbaren Nachfolger gibt. Und das ist Putin gelungen. Und das Risiko ist, dass jeder, der auf Putin folgt, noch schlimmer sein könnte als er selbst. Die innerrussische Kritik an Putin in Bezug auf den Krieg besteht hauptsächlich darin, dass er ihn nicht aggressiv genug führt. Die Stimmen, die sagen, dass dieser Krieg gar nicht geführt werden sollte, sind weitgehend verstummt.

Lesen Sie auch: Der Krieg wird so schnell nicht enden

Die Bush-Regierung ist für einige ihrer außenpolitischen Entscheidungen scharf kritisiert worden, vor allem für den Irakkrieg. Aber sie hat sich auch für eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft eingesetzt und wurde von europäischen Verbündeten wie Deutschland und Frankreich ausgebremst. Fühlen Sie sich in gewisser Weise in Ihrer Initiative bestätigt, wenn Sie sehen, was jetzt geschieht?
Eine kontrafaktische Betrachtung ist sehr schwierig, aber man kann zumindest argumentieren, dass Putin vielleicht abgeschreckt worden wäre, wenn die Nato 2008 in Bukarest volle Solidarität mit der Ukraine und Georgien gezeigt und ihnen einen Aktionsplan für die Mitgliedschaft aufgezeigt hätte. Obwohl wir all diese wunderbaren Erklärungen darüber abgegeben haben, dass das endgültige Ziel für Georgien und die Ukraine eindeutig die Nato ist, war es klar, dass die Franzosen und insbesondere die Deutschen, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, die Ukraine nicht in der Nato haben wollten. Und es ist auch klar, dass nach 2008 die Idee eines Nato-Beitritts wirklich vom Tisch war. Selbst 2014 sprachen die Ukrainer nicht mehr davon, dem Bündnis beizutreten. Die Vorstellung, dass es die Aussicht auf einen Nato-Beitritt der Ukraine war, die Putin provoziert hat, halte ich für falsch. Das Argument, Russland sei durch unsere Initiative provoziert worden, ist heute viel schwächer. Denn es ist mittlerweile klar, was Putin wirklich will.

Und das wäre?
Er hat eine Vision für ein wiederhergestelltes russisches Imperium auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Und dieses wiederhergestellte russische Imperium beginnt in Putins Vorstellung mit der Übernahme der Ukraine. Das ist es, was er vorhat. Er will nicht nur verhindern, dass die Ukraine der Nato beitritt. Er will die Ukraine als unabhängige Nation auflösen und sie in Russland absorbieren. Und darum geht es in diesem Krieg, und deshalb muss er gestoppt werden.

Der Besuch des US-Präsidenten in Kiew ist historisch – und eine Ansage an seine Gegner in In- und Ausland.
von Julian Heißler

In der US-Bevölkerung und im Kongress wird die Unterstützung für die Lieferung von Waffen an die Ukraine immer schwächer. Wird die Biden-Administration in der Lage sein, ihr Wort gegenüber Kiew zu halten und die Ukraine mit dem zu versorgen, was sie braucht?
Ich denke ja. Ich habe die Umfrageergebnisse gesehen und es gibt zwei Arten von Zahlen. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass unter den Republikanern die Meinung wächst, dass wir der Ukraine zu viel Hilfe leisten und dass wir das Geld lieber für die Bedürfnisse hier im Lande verwenden sollten. Andererseits, wenn man fragt: Unterstützen Sie die Unabhängigkeit der Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland? Dann sagen immer noch rund 60 Prozent ja. Und das ist seit einem Jahr ziemlich konstant. Aber alles ist politisch. Und Biden hat diesen Krieg so sehr zu einem Teil seiner Außenpolitik gemacht, dass er allein schon deshalb zwangsläufig von manchen Republikanern kritisiert wird.

Wird das Auswirkungen haben?
Eine Menge Geld wurde bereits bewilligt. Es kann im Laufe dieses Jahres ausgegeben werden. Was Sie allerdings sehen werden, sind verschiedene Resolutionen von Republikanern, die eine stärkere Kontrolle wollen, um sicherzustellen, dass das Geld nicht falsch ausgegeben wird. Das ist auch vernünftig. Sie werden zudem eine Menge Resolutionen sehen, in denen gesagt wird, dass unsere Verbündeten mehr auf der militärischen Seite tun sollten. Aber ich glaube nicht, dass eine Mehrheit des Repräsentantenhauses gegen die Ukraine stimmen wird. Ich sehe das einfach nicht. Und ich denke, Bundeskanzler Scholz hat sein eigenes Managementproblem, sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite. Dies ist also eine Herausforderung für alle unsere Demokratien, und unsere politischen Anführer müssen ihre Politik in den Griff bekommen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%